Prof. Dr. h.c. Peter Hartz, geboren 1941, ist Gründer der gemeinnützigen Stiftung SHS Foundation, mit der er das Konzept der minipreneure entwickelt hat. Er war von 1993 bis 2005 Arbeitsdirektor und Vorstandsmitglied der Volkswagen AG. Er leitete die Regierungskommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, deren Ergebnisse Grundlage für die Arbeitsmarktreformen der Regierung Gerhard Schröder waren.
Die Arbeitsmarktreform der Regierung Schröder – die größte seit Bismarck – war unter dem Strich ein großer Erfolg. Als sie umgesetzt wurde, sind aber die Langzeitarbeitslosen zu kurz gekommen. Eine so große Reform lebt und muss immer wieder entsprechend der Entwicklung angepasst werden. Dabei sind die Fortschritte der letzten 15 Jahren in Wissenschaft und Forschung zu berücksichtigen. Sie sind beträchtlich.
Was darf der Staat von Arbeitslosen erwarten? Vor allem, dass die Arbeitslosen mitwirken, ihr Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen. Dabei muss definiert werden, was zumutbar ist. Die Schrödersche Reform versuchte, vier Kriterien zu beantworten; die geographische, materielle, soziale und funktionale Zumutbarkeit. Beispiel: Einen Familienvater in Hamburg mit drei Kindern und einer kranken Frau kann ich nicht nach München vermitteln, einen alleinstehenden Single sehr wohl.
Große Diskussion lösen die Sanktionen von Arbeitslosen bei Versäumnissen aus. Wenn man genau hinschaut, betreffen die Sanktionen nur drei Prozent (!) aller Arbeitslosen. Die große Mehrheit erfüllt ihre Mitwirkungspflicht. Termine einzuhalten, der Hauptgrund für Sanktionen, ist zumutbar.
Ebenfalls wurde die Idee eines „solidarischen Grundeinkommens“ für Arbeitslose in die Diskussion gebracht. Damit sollen Arbeitslose staatlich finanzierte und freiwillige Jobs übernehmen können, die vorher in Städten und Gemeinden nicht finanzierbar waren. Kurz gesagt: bezahlte Ehrenämter. Das wäre ein Salto rückwärts. Ein solidarisches Grundeinkommen führt zu einer neuen Klassifizierung von Langzeitarbeitslosen. Sie werden damit als nicht mehr brauchbar in der Gesellschaft abgestempelt und aufgegeben. Völlig unmöglich für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Die Arbeitsmarktreform hat gerade die Empfängerinnen und -empfänger von Sozialhilfe wieder in den Vermittlungsprozess integriert und sie vom Abstellgleis geholt.
Wie muss die Arbeitsmarktreform heute weiterentwickelt werden? Jeder Mensch hat Talente. 15 Jahre nach der Reform sind sie heute dank der Fortschritte in der Wissenschaft und Forschung messbar und definierbar. Davon haben Personalchefs immer geträumt. Über eine entsprechende Vorbereitung können auch Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt zurückkehren. Talentdiagnostik und Beschäftigungsradar heißen die neuen Instrumente.
Der Prozess der Talentdiagnostik umfasst mehrere Schritte: Nachdem sämtliche im Lebenslauf enthaltene formelle Qualifikationen und Erfahrungen standardisiert erfasst wurden, wird in einem kreativen Prozess ein Lebensportrait erstellt. Diesem können zentrale Hinweise auf Talente entnommen werden. Häufig haben die sich in der Lebensgeschichte bereits gezeigt, aber sind den Teilnehmerinnen und Teilnehmern nicht als solche bewusst. Des Weiteren erfolgt eine genaue Analyse der heute verfügbaren Ressourcen, Entwicklungspotenziale und der hemmenden Faktoren. Diese sind in der Person oder in ihrem sozialen Umfeld begründet. In standardisierten IT-gestützten Talenttests werden die kognitiven Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmale und Interessen mit realen Anforderungsprofilen von Unternehmen abgeglichen. Um geeignete Unterstützungs- und Entwicklungsmaßnahmen ableiten zu können, werden weiterhin motivationale, emotionale und die Handlungssteuerung betreffende Aspekte erfasst. Diese sind dafür entscheidend, ob eine Person den Prozess erfolgreich absolvieren kann, sich beruflich neu zu orientieren. Mit Hilfe des Beschäftigungsradars wird vorhandenes und neues Beschäftigungspotenzial bis auf Ortsteilebene bzw. Stadtteilebene identifiziert, definiert und lokalisiert. Die gewonnenen Informationen werden so aufbereitet, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Verbindung mit der Talentdiagnose sehr detaillierte Hinweise auf konkretes Beschäftigungspotenzial erhalten können. Dazu werden zwei Strategien verfolgt:
Die erste Strategie ist darauf fokussiert, Beschäftigungsmöglichkeiten innerhalb bestehender Arbeitsplatzstrukturen zu lokalisieren. Mit der zweiten Strategie können bislang unbekannte Beschäftigungspotenziale, z.B. im Bereich der neuen trendbasierten Jobs und Dienstleistungen, entdeckt werden. Gemeinsam mit Trendforschern wurden bereits 150 innovative Dienstleistungsideen entwickelt. Um Synergieeffekte zu nutzen, werden diese Geschäftsideen in sieben Jobfamilien zusammengefasst, die gleichzeitig sieben Zukunftsmärkte repräsentieren. Diese neu entwickelten Dienstleistungsideen sollen lokal relevant und realisierbar sein. Um echte Erfolgschancen zu haben, ist eine detaillierte Marktuntersuchung im geografischen Umfeld des Arbeitslosen nötig.
Arbeitsminister Hubertus Heil ist jetzt mit dem Programm „Passiv-Aktiv-Tausch“ für Langzeitarbeitslose auf dem richtigen Weg. Ein Teil der Sozialleistungen ginge dann nicht mehr an den Betroffenen selbst, sondern als Lohnkostenzuschüsse an die Betriebe. Diese können ihm so einen Lohn zahlen, der mit dieser Aufstockung ein ortsübliches Gehalt wäre.
Denjenigen, die aber fordern „Hartz IV abschaffen“, kann man nur sagen: sie müssen die komplexen und erfolgreichen Arbeitsmarktbedingungen eines modernen und wettbewerbsfähigen Sozialstaates durchdringen. Wir alle müssen der Realität des Machbaren ins Auge schauen.