"Liberale Demokratien sind heutzutage mit einer Welle des Misstrauens und der Zweifel an ihrer Fähigkeit konfrontiert, der Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen zu dienen und die zahlreichen Krisen zu lösen, die unsere Zukunft bedrohen. Dies droht uns in eine Welt gefährlicher populistischer Politik zu führen, in der die Wut der Menschen ausgenutzt wird, ohne die tatsächlichen Gefahren anzugehen - vom Klimawandel über dauerhaft unhaltbare Ungleichheiten bis hin zu großen globalen Konflikten. Um erhebliche Schäden von der Menschheit und dem Planeten abzuwenden, müssen wir uns dringend mit den Ursachen für die Unzufriedenheit der Menschen auseinandersetzen“. Auszug aus dem, Berliner Manifest (The Berlin Summit Declaration – Winning back the people)[1]
Die Wahlerfolge rechtsextremer Parteien sind nur oberflächlich der Migration geschuldet. Die wahren Gründe liegen tiefer. Die erschreckenden Wahlergebnisse sind vielmehr die Folge einer Vielfalt von Entwicklungen, bei denen sich weite Teile der Bevölkerung zutiefst verunsichert oder abgehängt fühlen. Die von rechts vor diesem Hintergrund geschürten hochemotionalen Ausgrenzungs- und Neiddebatten dürfen aber nicht den politischen Diskurs bestimmen. Im Mittelpunkt müssen die eigentlichen Ursachen dieser Entwicklungen stehen – und vor allem glaubwürdige Lösungen für die anstehenden Probleme!
Die Weichenstellungen der nächsten Jahre werden darüber entscheiden, ob wir wirtschaftlich stark bleiben und der soziale Zusammenhalt erhalten bleibt und ausgebaut wird. Die Rückkehr des Neoliberalismus und Nationalismus, erstarkender Rechtsextremismus und Rassismus, eine sich weiter vergrößernde soziale Ungleichheit und die Vernachlässigung der öffentlichen Infrastruktur und Daseinsvorsorge schwächen unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Wirtschaft, erzeugen Unsicherheit und Verdruss.
Die vergangenen Jahre waren von akuten und länger andauernden Herausforderungen geprägt: von Klimawandel, Flucht vor Krieg, von der Pandemie, dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bis zur dadurch verursachten temporären Energieknappheit mit hohen Teuerungsraten. Die SPD hat in Regierungsverantwortung einen wesentlichen Anteil daran, dass Deutschland diese großen Herausforderungen bisher gut gemeistert hat. Mehr noch, die Regierung hat mit vielen ihrer Entscheidungen den Weg in eine Zukunft aufgezeigt, auf dem unsere Volkswirtschaft auch unter den sich massiv ändernden globalen Rahmenbedingungen Wohlstand für alle erwirtschaften kann. Dennoch: An vielen Stellen hätte eigentlich spürbar mehr passieren müssen. Doch dafür fehlten der SPD sowohl im Bundestag wie auch in den letzten Bundesregierungen inklusive der gegenwärtigen die Mehrheiten. Das Ergebnis: Die dringend notwendige durchgreifende Modernisierung unserer öffentlichen Daseinsvorsorge und Infrastruktur kommt nur schleppend voran. Bei Kitas, Schulen, bezahlbarem Wohnraum, Brücken, Bahn, ÖPNV, Glasfaser/Breitband, Digitalisierung, veralteter Verwaltung, Kranken-häusern, Ärzteversorgung und Alterspflege ist der aktuelle Zustand nicht weiter hinnehmbar.
Unsere Demokratie lebt von dem Versprechen, allen die gleiche Chance eines guten Lebens und einer positiven Zukunft zu ermöglichen. Dazu müssen wir eine Ära der öffentlichen wie privaten Investitionen einläuten, um die dafür notwendigen Grundlagen wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen. Die SPD als die Partei des sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritts muss sich zum Treiber dieser Dynamik machen. Nur so können die gewaltigen Herausforderungen, der Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft, die „weit verbreitete Erfahrung eines tatsächlichen oder gefühlten Verlusts von Kontrolle über die eigenen Lebensumstände“, wie es Ökonominnen und Ökonomen in der Berliner Erklärung formulierten, bewältigt werden. Die Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag nutzen diese Unsicherheit, in dem sie durch das Schüren von Ängsten und die Verbreitung von teils polarisierenden, teils bewusst falschen Nachrichten vor allem in den digitalen Medien, Wahlen zu gewinnen trachten.
Die SPD muss für klare Mehrheiten und den Auftrag kämpfen, die notwendigen Weichen-stellungen endlich auf den Weg zu bringen. Dafür bedarf es erstens klarer inhaltlicher Positionen, die jederzeit wiedererkannt werden können, und zweitens an das digitale Zeitalter angepasster Diskursfähigkeiten. Deutschland, Europa und letztlich die liberalen Demokratien weltweit stehen jetzt am Scheideweg.
1. Wir wollen und wir brauchen eine deutsche und europäische industriepolitische Initiative für Wachstum und Arbeitsplätze.
Den großen strukturellen Wandel der Wirtschaft wollen und müssen wir aktiv politisch begleiten, damit wir die bestehende Industrie in diesem Wandel unterstützen und neue innovative Unternehmen hervorbringen, damit wir gut bezahlte Arbeitsplätze der Zukunft in Deutschland haben. Unter anderem die deutsche Industrie (BDI) wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), deren volkswirtschaftliche Institute IW und IMK, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) wie der Internationale Währungsfonds (IWF), zuletzt auch Mario Draghi für die Europäische Kommission haben wiederholt und übereinstimmend dargelegt: Der milliardenschwere öffentliche wie private Investitionsstau ist eines der großen strukturellen Wachstumshemmnisse.
Mit bis zu 1,4 Billionen Euro beziffert der BDI den öffentlichen wie privaten Investitionsbedarf. Die öffentliche Infrastruktur bildet dabei den Kern der Investitionen, denn eine moderne Verkehrsinfrastruktur, schneller und verlässlicher Internetzugang, digitalisierte Behörden oder gute Bildungseinrichtungen von der Kita bis zur Hochschule bilden die notwendigen Rahmen-bedingungen für die Unternehmen von morgen. Am Ende aber steht die Gretchenfrage: „Wie hältst du´s mit der Finanzierung“? Und zwar im Bund, im Land und in den Kommunen, in denen 2/3 aller Investitionen getätigt werden. Öffentliche Haushalte, die an den falschen Stellen kürzen und zu wenig Mittel für die notwendigen Investitionen bereitstellen, die Verschonung höchster Vermögen und das starre Festhalten an der Schuldenbremse sind nicht nur sozial ungerecht, sondern auch schädlich für eine positive Entwicklung unserer Wirtschaft, denn sie versperrt den Weg zu einer rasch verbesserten Daseinsvorsorge und unterminiert unsere Demokratie. Diese Debatte müssen wir offensiver führen.
2. Wir wollen und wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit im Wandel.
Die Menschen in Deutschland sind fleißig. Sie wollen gut leben können von dem, was sie erarbeiten. Und sie wollen, dass sich Leistung lohnt – in Form von Anerkennung, aber auch einem guten Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten. Liberale, Konservative und auch Rechtsextreme bemessen Leistung nach der Höhe des Vermögens oder des Einkommens. Ihre Programme und konkrete Politik bedeuten Umverteilung von unten nach oben und vergrößern die soziale Ungleichheit, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und auch für unsere Volkswirtschaft schädlich ist. Wir bemessen Leistung nicht am Kontostand. Die echten Leistungsträger*innen sind auch diejenigen, die die Herausforderungen ihres Alltags trotz mancher Widrigkeit bewältigen. Die mit ihrer täglichen Arbeit oder ihrem ehrenamtlichen Engagement Deutschland lebenswert und zukunftsfähig machen. Die den Zusammenhalt stärken statt zu spalten. Wir wollen diesen Menschen Sicherheit im Wandel und eine positive Perspektive bieten. Zu oft aber entscheidet trotz großer Anstrengung immer noch die soziale Herkunft darüber, welche Chancen sie auf ein gutes Leben haben. Die soziale Ungleichheit, vor allem die Vermögensungleichheit, ist in Deutschland auch in den letzten Jahren gewachsen, und sie ist zu groß. Vermögen wird zu großen Teilen nicht erarbeitet, sondern vererbt. In einer Leistungsgesellschaft darf Erfolg aber nicht von der sozialen Herkunft, sondern muss von persönlicher Leistung abhängen. Dazu brauchen wir eine Reaktivierung bzw. Reform vermögensbezogener Steuern. Die Einnahmen daraus kommen alleine den Ländern zugute – mehr Geld für Kitas, Schulen und Hochschulen, für Fortbildung und Weiterbildung und damit mehr Chancengleichheit können damit finanziert werden.
3. Wir wollen und wir werden den Rechtsextremismus an seiner Wurzel bekämpfen.
Eine zukunftsfähige, modernisierte öffentliche Infrastruktur und mehr Verteilungsgerechtigkeit sind kein „Sozial-Klimbim“, wie es Konservative und Liberale abschätzig abtun. Wenn wir die Demokratie und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen stärken wollen, muss vor Ort die Kita bereitstehen, die Schule gut sein, die Bahn zuverlässig fahren, die Wohnung bezahlbar sein, die Baugenehmigung zeitnah erfolgen und Ärzte zeitnah verfügbar sein – sprich: Das, was wir unter öffentlicher Daseinsvorsorge verstehen, muss wieder besser funktionieren. Auch dafür müssen wir Geld bereitstellen, aber auch den Fachkräftemangel angehen. Und wir müssen das gesellschaftliche Aufstiegsversprechen für die große Mehrheit der Menschen erneuern.
4. Wir wollen und wir brauchen einen starken Sozialstaat.
Nur Reiche können sich einen schwachen Staat leisten. Alle anderen brauchen einen starken und aktiven Sozialstaat, der die innere, die äußere und die soziale Sicherheit garantiert. Wir müssen die große Mehrheit im Blick haben, die soziale Sicherheit erwarten durch ein starkes System der Sozialversicherungen oder innere Sicherheit durch eine bestens ausgestattete Polizei. Wir müssen die große Mehrheit der Menschen im Blick haben, die sich darauf verlassen, dass die Bahn fährt, die Brücke befahrbar und die Kita bezahlbar ist, die Schule und das nächste Krankenhaus gut erreichbar sind und das Internet funktioniert. Reiche können sich das alles bei Bedarf kaufen. Wir wollen, dass diese öffentlichen Leistungen allen zur Verfügung stehen.
5. Wir wollen und wir werden Europa stärken!
Auch in Europa brauchen wir eine große Kraftanstrengung, um in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein. Industrie und innovative neue Unternehmen mit gut bezahlten Arbeitsplätzen brauchen die besten Rahmenbedingungen. Der aktuelle Bericht Mario Draghis für die europäische Kommission weist in die richtige Richtung: Die EU muss die Innovationslücke zu den US und China schließen und dazu einen gemeinsamen Plan entwickeln. Eine bessere Wettbewerbsfähigkeit erfordert eine engere Zusammenarbeit und Integration zwischen den europäischen Nationen. Und auch hier gilt: Eine angemessene Agenda zur Wettbewerbs-fähigkeit bedarf einer jährlichen Finanzierung von 750 bis 800 Milliarden Euro. Übrigens für Projekte, deren Ziele bereits von der EU vereinbart wurden. Wir müssen und werden für eine positive Entwicklung Europas diese Investitionsoffensive vorantreiben.
Die SPD war immer dann stark, wenn sie die zentralen gesellschaftlichen Debatten unerschrocken geführt hat. Die SPD muss es auch jetzt sein, die diese Debatten in der Partei und in der Gesellschaft führt!
Als die Partei des sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhalts und Fortschritts haben wir in den letzten Jahren klare, zukunftsweisende Beschlüsse gefasst, die Antworten geben auf die großen, wesentlichen Herausforderungen. Die öffentlichen Debatten sind aber nicht von diesen großen, existenziellen Fragen geprägt, sondern von der Themenagenda der Rechtsextremen und Konservativen: Schüren ausländerfeindlicher Ressentiments und Abschottungsfantasien, Untergangsszenarien, übertriebene Identitäts-debatten oder vermeintliche Verbotsdebatten.
Der öffentliche Diskurs ist derzeit – nicht nur in Deutschland – durch polarisierende Debatten in Einzelfragen gekennzeichnet. Dabei besteht in der Bevölkerung insgesamt keine durchgreifende Polarisierung der Ansichten in den meisten politischen Fragen. Es gibt Mehrheiten für viele unserer Positionen, z. B. für einen starken Sozialstaat, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, für massive Investitionen in Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Sie spielen aber bisher in der öffentlichen Diskussion nur gelegentlich eine Rolle. Dies ist die Chance der SPD. Sie muss die Frage der Demokratie mit der des wirtschaftlichen Fortschritts und des gesellschaftlichen Zusammenhalts verbinden und in den Mittelpunkt ihres Diskurses stellen. Die SPD muss breit, prominent, digitaltauglich und offensiv argumentierend für diese Positionen eintreten! Sie darf sich nicht in Abwehrkämpfen gegen Hetze und Stimmungsmache von rechts verfangen.
Diese Debatte lässt sich mit den hier skizzierten inhaltlichen Punkten nahtlos unterfüttern. Denn eine funktionierende Infrastruktur, wachsender Wohlstand für alle und soziale Sicherheit sind Kernelemente des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die SPD muss wieder die Kraft sein, die diese Zukunftsdebatten gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit der Wissenschaft, mit der Zivilgesellschaft, mit den Vereinen, Verbänden und Organisationen führt. Wir sind die Kraft, die nicht Feindseligkeit säen, sondern gemeinsam die Zukunft positiv gestalten will. Mit diesem Positionspapier wollen wir einen Beitrag zu dieser Debatte leisten.
Berlin, 08. Oktober 2024
Dr. Wiebke Esdar, MdB, Sprecherin der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion
Prof. Dr. Gustav Horn, ehem. Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) und Vorsitzender der Keynes Gesellschaft
Cansel Kiziltepe, Senatorin für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung des Landes Berlin
Tim Klüssendorf, MdB, Sprecher der Parlamentarischen Linken in der SPD-Bundestagsfraktion
Michael Schrodi, MdB, finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion
Prof. Dr. Gesine Schwan, Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD
[1] https://newforum.org/wp-content/uploads/2024/07/DE_The-Berlin-Summit-Declaration_Winning-back-the-people.pdf