Bildung und Forschung in Europa – Eine neue Vision wagen

Anlässlich der Bologna-Ministerkonferenz am 24./25. Mai 2018 in Paris hat die Arbeitsgruppe Bildung und Forschung der SPD-Bundestagsfraktion folgendes Positionspapier (Download) beschlossen:

 

Vor zwanzig Jahren wurde die Sorbonne-Erklärung mit dem Ziel verabschiedet, einen
gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu schaffen. Heute lernen fast alle europäischen
Studierenden in einem Studiengang mit Bachelor- oder Masterabschluss, sind Mobilität und
Internationalisierung gestiegen und eine umfassende Qualitätssicherung für eine qualitativ
hochwertige Hochschulbildung ist implementiert. Es lässt sich – trotz noch immer vorhandener
Defizite, wie etwa der mit der Einführung der Regelstudienzeit einhergehenden gestiegenen
Belastung der Studierenden – insgesamt ein positives Fazit ziehen. Doch stellt sich die Frage:
Wie geht es weiter?


Es ist an der Zeit, eine neue Vision für die europäische Bildungs- und Forschungspolitik zu
entwickeln. Der Europäische Hochschulraum (EHR) ist das Versprechen auf Austausch,
Verständigung und Zusammenhalt für 48 Länder: von Portugal bis Russland und von Island
bis Kasachstan. Er birgt die Chance, dass ganz Europa von nationalen Stärken profitiert und
eigene Zukunftsperspektiven entwickelt.


Wir wollen junge Europäerinnen und Europäer deshalb unterstützen, gemeinsam nach Wissen
zu streben und so kulturelle und politische Gräben zu überwinden. Deshalb bekennen wir uns
nicht nur zu der Absicht, 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2025 für Forschung und
Entwicklung auszugeben. Sondern wir wollen darüber hinaus die Bologna-Konferenz zu einer
Europäischen Hochschulkonferenz weiterentwickeln, die konkrete Maßnahmen vereinbart, um
im EHR:

  • die Wissenschaftsfreiheit zu sichern,
  • Bildungsteilhabe zu verwirklichen
  • und mehr Mobilität, Austausch und Vergleichbarkeit zu ermöglichen.

Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität: für die Verwirklichung dieser Werte muss die
Europäische Union der Motor sein, mutig vorangehen und andere Länder inspirieren. Ein
solches Europa ist nicht nur Fixpunkt im bildungs- und forschungspolitischen
Koordinatensystem; es ist ein Versprechen für die klügsten Köpfe in aller Welt.


1) Wissenschaftsfreiheit sichern
Europa teilt gemeinsame Werte, zu denen neben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch die
Freiheit der Wissenschaft zählt. Diese Errungenschaft ist heute leider bedroht: nicht nur durch
staatliche Einschränkungen, sondern auch durch die Machtstellung einzelner Unternehmen
und die zunehmende Ökonomisierung unserer Bildungs- und Forschungslandschaft.
Wissenschaftsfreiheit bedeutet insofern nicht nur Freiheit von politischer Einflussnahme,
sondern auch Freiheit von ökonomischen Zwängen und Marktunabhängigkeit. Um die
Wissenschaftsfreiheit zu sichern, muss eine Europäische Hochschulkonferenz daher:

  • einen gemeinsamen europäischen Wertekatalog für Wissenschaftsfreiheit entwickeln, der perspektivisch an den europäischen Gerichtsbarkeiten eingeklagt werden kann;
  • eine zentrale Anlaufstelle für den Austausch mit und zwischen bedrohten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einrichten;
  • die Möglichkeit haben, eine anlassbezogene Beobachtergruppe zu berufen, um bei Bedarf Einschränkungen und Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit vor Ort in den Mitgliedsländern zu begutachten und Empfehlungen abzugeben;
  • die Unabhängigkeit von Drittländern und Großunternehmen mit bildungs- und forschungspolitisch relevanter Monopolstellung sowie den freien Wissenszugang im EHR sicherstellen, indem sie eigene europäische Alternativen, wie etwa einen Web-Index, als Basis der digitalen Infrastruktur strategisch aufbaut und finanziell fördert.

 

2) Bildungsteilhabe verwirklichen
Für Verständigung und Zusammenhalt in Europa muss Hochschulbildung für möglichst viele
junge Menschen erfahrbar sein. Dabei geht es nicht nur um einzelne Leuchttürme in unserer
bildungs- und forschungspolitischen Landschaft, sondern wir wollen, dass alle jungen
Menschen Botschafterinnen und Botschafter für Europa und unsere Wissensgesellschaft
werden können. Wissenschaft darf dabei nicht abgehoben sein, sondern muss stets im Dienst
der Gesellschaft stehen und diese einbinden. Um Bildungsteilhabe zu verwirklichen, muss eine
Europäische Hochschulkonferenz daher:

  • prüfen, wie schrittweise eine europäisch finanzierte Ausbildungsförderung mit Rechtsanspruch verwirklicht werden kann, sowie den Mobilitätszuschuss Erasmus+ auf alle EHR-Mitgliedstaaten ausweiten;
  • soziale Benachteiligungen, die eine Einhaltung der Regelstudienzeit erschweren, abschwächen und das selbstbestimmte Studium stärken;
  • eine Initiative für Wissenschaftsteilhabe durch einen institutionalisierten Austausch mit der Zivilgesellschaft in Gang setzen;
  • bestehende nationale Digitalisierungsstrategien in der Hochschulbildung unterstützen und dort perspektivisch eine gesamteuropäische Digitalisierungsstrategie erarbeiten;
  • Initiativen der EHR-Mitgliedsländer für lebenslanges Lernen und Weiterbildung im Sinne des „Europäischen Raums für lebenslanges Lernen“ unterstützen;
  • ein Integrationsprogramm für anerkannte geflüchtete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Doktorandinnen und Doktoranden aus Drittstaaten einrichten.

 

3) Mehr Mobilität, Austausch und Vergleichbarkeit ermöglichen
Mobilität, Austausch und Vergleichbarkeit sind Voraussetzung, um regionale Stärken in
Bildung und Forschung bestmöglich zu nutzen, aber auch um die Annäherung und den
Zusammenhalt der europäischen Völker zu fördern. Das Verständnis für kulturelle
Unterschiede und historische Entwicklungen gerade unter jungen Menschen ist dabei Voraussetzung, um den Frieden in Europa dauerhaft zu sichern. Um Mobilität, Austausch und
Vergleichbarkeit zu ermöglichen, muss eine Europäische Hochschulkonferenz daher:

  • ein Europäisches Hochschulkonvent einrichten, um den Austausch zwischen europäischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sicherzustellen;
  • die französische Initiative zu europäischen Hochschulen mit einer „Bottom-up“-Strategie konzeptionell gestalten und umsetzen sowie die strategischen Partnerschaften zwischen Hochschuleinrichtungen im EHR im Sinne von Europäischen Hochschulnetzwerken entwickeln und stärken;
  • einen Aktionsplan erarbeiten, um vom Brexit betroffene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu schützen;
  • Online Linguistic Support-Fremdsprachkurse an teilnehmenden Erasmus+-Hochschulen bis 2020 auf alle offiziellen EU-Sprachen sowie perspektivisch auf alle EHR-Sprachen und bis Niveau C2 des Europäischen Referenzrahmens ausweiten;
  • ergänzend zu den Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen ein Programm für erleichterte länderübergreifende Promotionen und Doppelpromotionen einrichten, um einen breiten Austausch von Doktorandinnen und Doktoranden zu fördern;
  • eine verbindliche Anerkennungsquote für an europäischen Hochschulen erbrachte Leistungen einführen und das Recht auf eine qualitative Begründung bei verweigerter Anerkennung verankern;
  • einer Überspezialisierung von Studieninhalten und Studiengängen, die in den letzten Jahren zu beobachten war (allein 17.508 Studiengänge mit Bachelor- oder Masterabschluss in Deutschland), entgegenwirken sowie die Hochschulen ermutigen, eine generalistische Ausbildung anzubieten und ihre Studienangebote auf fachlich breit angelegte Studiengänge mit exemplarischen Vertiefungen zu konzentrieren;
  • die 2015 beschlossenen gemeinsamen europäischen Standards für eine qualitativ hochwertige Hochschullehre im Rahmen der Qualitätssicherung und die in der „Human Resources Excellence in Research“ festgelegten Prinzipien des guten Forschens allgemein umsetzen, um unter anderem europäische Wissenschaftskooperationen zu erleichtern.